Reisen bildet und dazu hatte ich in der letzten Woche viel Gelegenheit. Gemeinsam mit einer großen Wirtschaftsdelegation war ich zunächst in Norwegen. Dort ging es vor allem um das Thema Energie. Die Gespräche dazu waren ausgesprochen gut. Danach ging’s weiter in die Hauptstadt von Estland, Tallinn. Estland ist der kleinste der drei baltischen Staaten mit gerade einmal 1,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, aber in Sachen Digitalisierung anerkannt eines der weltweit besten Beispiele. Vor allem beim E‑Government, dem durchgehend digitalen Kontakt der Bürgerinnen und Bürger mit den Behörden, können wir in Deutschland noch jede Menge von Estland lernen.
Aber die Gespräche in Estland drehten sich auch immer wieder um einen ganz anderen Aspekt. Estland grenzt direkt an Russland und die Hauptstadt Tallinn ist gerade einmal zweihundert Kilometer von der Grenze entfernt. Erst seit 1991 ist das Land unabhängig und später dann auch Mitglieder der EU und NATO geworden. Vor diesem Hintergrund ging es in den politischen Gesprächen natürlich auch immer um den russischen Angriff auf die Ukraine. Dabei ist ein um’s andere Mal deutlich geworden, dass dieser Krieg in Deutschland und in Estland eine sehr unterschiedliche Betroffenheit auslöst.
In Deutschland sind wir immerhin zwei Flugstunden von dem Kriegsgeschehen entfernt. Für uns ist dieser Krieg überwiegend ein großer europäischer militärischer Konflikt, in dem Deutschland aus sehr guten Gründen an der Seite der Ukraine steht. Wir spüren die Folgen dieses Krieges vornehmlich durch die hohe Zahl von Kriegsflüchtlingen und die hohen Energiepreise. Aber fühlen wir uns persönlich bedroht? Für die meisten Menschen in Deutschland gilt das wohl eher nicht.
Das ist in Estland anders – dort fühlen sich die Menschen durch den Krieg in der Ukraine auch selbst direkt bedroht. Die Ukraine verteidige nicht nur sich selbst, sondern sie verteidige sich gewissermaßen stellvertretend auch für andere Länder gegen den russischen Angriff, ist mir immer wieder vermittelt worden.
Diese Haltung begründet sich nicht nur aus der unmittelbaren Nähe zu Russland, sondern auch aus jahrhundertelange Erfahrungen mit dem übermächtigen Nachbarn, der niemals die Unabhängigkeit des kleinen Estlands akzeptiert habe. Nach der Herrschaft der Zaren hätten die Esten zweimal ihre Unabhängigkeit nur deswegen erkämpfen können, weil in Russland zeitgleich schwere Machtkämpfe tobten – 1918 und 1991. Die erste estnische Demokratie wurde 1940 durch den Hitler-Stalin-Pakt beendet und Estland wieder der Sowjetunion zugeordnet. Und auch die heutige Unabhängigkeit habe man nur gegen den Widerstand Russlands durchsetzen können.
Wenn man dann noch hört, dass ein Cyber-Angriff aus Russland im Jahr 2007 das öffentliche Leben für kurze Zeit habe zusammenbrechen lassen (heute ist Estland unter den führenden Ländern in Sachen Cyer-Security), dann wird klar, warum der russische Angriff auf die Ukraine in den baltischen Staaten auch als direkte Bedrohung für Menschen und Territorium wahrgenommen wird.
Interessant waren auch die Antworten auf die Frage, unter welchen Bedingungen denn wohl aus estnischer Sicht ein Frieden in der Ukraine wieder möglich sei. Eigentlich nur, so hieß es, wenn Russland endlich das Selbstbestimmungsrecht seiner Nachbarn anerkenne und aufhöre, diese Länder als Teil seines Machtbereichs anzusehen, lautete die Antwort – und dass das passieren werde, da sei man sehr skeptisch.
Mich haben diese sehr ernsthaften Gespräche und die Sichtweise der Esten auf den Ukraine-Konflikt sehr beeindruckt und vor allem stimme ich der Schlussfolgerung zu: Die Grundlage für einen sicheren Frieden in Europa ist und bleibt das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Ich wünsche Euch eine gute Woche.